Nach Berlin Tag & Nacht und Köln 50667 – bald Zwiesel 94227 auf RTL2

Wilder als die Vorbilder

Jeder kennt sie, nur die wenigsten geben zu, es regelmäßig zu schauen. Ob das seit 1992 laufende Urgestein Gute Zeiten, schlechte Zeiten, das zwei Jahre später begonnene Unter uns oder Alles was zählt seit 2006 – Seifenopern sind aus den Abendstunden des deutschen Fernsehens nicht mehr wegzudenken.

Und das Konzept geht auf – realitätsnahe Personen mit echten Problemen, bei denen man gerne mitfiebert und dabei unterhalten wird. Für sporadische Zuschauer mag es wirken, als würde das Schicksalsrad alle Figuren jede Woche aufs Neue verschlingen und die Würfel neu werfen da die Produktionsfirma auf Drama setzt – und auch öfters neue Ableger schafft.

Schon seit 2011 erfreut sich Berlin Tag und Nacht mit mittlerweile über 2.700 Episoden bester Einschaltquoten. Nicht weniger erfolgreich ist da Köln 50667, das ebenso auf RTL2 läuft und seit 2013 über 2.300 Episoden hervorgebracht hat. Als die beiden Spitzenreiter preschen sie voran, was nicht an der leichten Zugänglichkeit für besonders junge Zuschauer liegt.

Während man meinen mag, es gäbe mit Abertausenden Folgen und Ablegern im gleichen Serienuniversum bereits ausreichend Seifenopern, so sieht die Filmpool Film- und Fernsehproduktion noch viel ungenütztes Potenzial und setzt einen oben drauf. Dabei will man bei neuen Ablegern nicht nur »irgendeine eine weitere Seifenoper schaffen, sondern die Grenzen des Machbaren weiter ausloten«, heißt es offiziell im Blog von RTL2 und verkündet auch schon den Namen einer neuen Dailysoap.

Das Niveau soll sinken…

…und mit ihm der Blick auf der Landkarte. »Eine weitere Seifenoper in einer weiteren Großstadt wollten wir nicht. Das hätte auch nicht gezogen«, heißt es von Vittorio Valente, dem Hauptproduzenten von Berlin Tag und Nacht und Köln 50667. »Die Zuschauer von heute sind wählerischer und weitaus kritischer zu überzeugen als damals. Sie müssen von der ersten Folge an interessiert, oder besser noch fasziniert sein.«

Nach Erfolgen von Bauer sucht Frau (nebst Ableger Brauer sucht Frau) und Schwiegertochter gesucht stand fest – die neue Serie musste sich auf dem Land bewegen. Weg vom Beton, rein in die Misthaufenregion der 9er Postleitzahlen. Niederbayern!

In die nähere Auswahl rückten einige kleinere Städte. »Schließlich blieben wir im letzten Rand bei einem Städtchen namens Zwiesel hängen. Das liegt kurz vor der tschechischen Grenze.« Was die Namensgebung anging, da orientierte man sich an Köln 50667. »Um die Zuschauer zu solch später Tageszeit, man strebt das Abendprogramm an, nicht noch weiter zu überfordern, heißt das neue Programm der Schlichtheit halber Zwiesel 94227«, sagt Vittorio Valente. Der gediegene Zuschauer weiß also gleich, was er bekommt.

Zwiesel selbst wäre um ein Haar nur die zweite Wahl gewesen, wäre es nicht wegen einem der fertigsten Individuen namens Pretsch gewesen. Pretsch ist ursprünglich Regener (Regen liegt knappe zehn Kilometer entfernt von Zwiesel), doch sucht das Schlechte bekanntermaßen immer seinesgleichen. Von daher zog Pretsch über 140 Jahre nach den 1870er-Jahren nach Zwiesel. Dort versucht er sich der nichtsnutzige Nihilumneanderthaler als Autor und Blogger und ist darin mindestens so gut wie die Stadt selbst, etwas aus sich zu machen.

Aber warum fiel die Wahl auf Zwiesel? Und was ist bei der selbst ernannten Glasstadt Zwiesel so gewaltig schiefgelaufen, um dafür auserkoren zu werden?

Alles. Einfach alles.

Kurzer Hochmut, steter Fall

Zwiesel liegt auf dem 49. Breitengrad. Nur wenige Kilometer entfernt von Langdorf, der selbst ernannten »schönsten Gemeinde der Welt« und Regen, der »Perle am Fluss«, und dem dank Rhode und Schwarz florierenden Markt Teisnach.

Der Etymologie auf Wikipedia folgernd, änderte sich die Schreibweise von Zwiesel des Öfteren und ist auf das mittelhochdeutsche Wort zwisel zurückzuführen, das Gabel bedeutet. Hier ist die Vereinigung des Großen und des Kleinen Regens sowie die zweier Straßen gemeint.

Die Wahrheit leuchtet hingegen mehr ein. Zwiesel ist die Zusammenführung aus Zwi Esel, also zwei Esel. Denn ein einzelner Esel reicht bei Weitem nicht aus, um die Zukunft eines einst vielversprechenden Städtchens so dermaßen zu verhunzen und zu einem Platz auf der Landkarte verkommen zu lassen, der von vielen mittlerweile nur noch als »versoffenes, versifftes Hinterhofsaukaff« bezeichnet wird.

Viel hätte aus diesem Städtchen werden können – vor wenigen Jahrzehnten fragten bereits Firmen wie BMW (nun ansässig in Dingolfing, größtes Fahrzeugwerk in Europa) an, sich in Zwiesel niederzulassen. Damalige Stadtväter waren von Zwiesels Wahlspruch »Fein Glas, gut Holz, sind Zwiesels Stolz« jedoch mit zu stark angeschwollener Brust und eigenen Interessen an der Ratssitzung anwesend, um auch nur eine Minute Richtung Zukunft zu denken und nicht nur an die nächsten dreieinhalb Monate und hundert verkauften Schnitzel des eigenen Unternehmens.

Die Jahre zogen dahin, andere Städte davon. Nun ist Zwiesel nicht ganz ein komplettes Kuhdorf, aber aufgrund der 9er Postleitzahl auch der Skala von Schulnoten mindestens eine satte 9. Diese Bewertung konnte auch die minimale Aufwertung mittels einer 2022 gebauten Filiale von Burger King nicht mehr retten. Eher erzeugt das noch eher einen faderen Nachgeschmack als Erinnerung an damals, als McDonald’s in Zwiesel bauen wollte – aber von den damaligen kurzsichtigen Stadtvätern freilich aus gleichen Gründen wie oben abgelehnt wurde, womit der Fast-Food-Zuschlag an die Perle am Fluss ging.

Eigentliche Argumentation war damals, dass ein ansässiges Restaurant ein Schnitzel weniger verkaufen könnte, wenn jemand einen Burger will. Mit der Folge, dass viele unverändert wegen eines Burgers nach Regen fahren und die Lieferfahrzeuge des goldenen Möwen-M täglich zig Mal nach Zwiesel fahren. Also setzte man nicht nur alles Mögliche daran, alles Gute fernzuhalten, man schenkte es auch noch her.

Fein Glas, gut Holz, sind Zwiesel Stolz. Aber was, wenn man in einer Glasstadt sitzt, mit Steinen wirft und nicht daran denkt, dass Stolz mindestens genau so fragil und brüchig ist wie Glas?

Elementarer gefragt – was schafft Zwiesel eigentlich?

Sich selbst ab, so viel ist sicher.

Die Lage ist gut, weil sich nichts tut

Was also macht Zwiesel so besonders und interessant für eine Fernsehproduktion?

Nichts. Absolut nichts.

Denn selbst der Stadtplatz, Zentrum einer jeden Stadt, ist hier eine bare Wüste aus Geschäften, die schließen, und welchen, die gar nicht mehr eröffnen wollen. Brauchbare Geschäfte siedelten sich distanzierend am Rande der Stadt an, ließen die Stadt weiter ausbluten. Dagegen, man will es kaum glauben, half auch keine harsche Parkpolitik für die viel zu wenigen Parkplätze buntes Anmalen derer oder ständiges Rumhampeln der Stadt, die Verkehrsführung monatlich zu ändern, bis selbst vermutlich die Putzfrau einmal einen Vorschlag machen durfte.

Doch genau darin liegt der Clou. Vittorio Valente, Produzent aller großen Seifenopern, sieht genau hier großes Potenzial und verweist auf die zuletzt ins Leben gerufene ‚Brauer sucht Frau‚, das sich nicht nur als Internetphänomen herausstellt, sondern bester Einschaltquoten erfreut.

»Die Vergangenheit hat Zwiesel ja schon in den Sand gesetzt, und in der Gegenwart sieht es nicht gerade aus, als gäbe es eine bessere Zukunft. Daher ziehen wir das jetzt durch. Zwiesel ist nicht nur das Mordor von Niederbayern, sondern von ganz Deutschland – beste Voraussetzungen, da wir genau ein solches örtliches Etablissement suchten.«

Harte Worte. Aber Zwiesel ist eben das, was Zwiesel ist. Irgendetwas, was keiner mochte, und deshalb an den letzten Rand der Karte rückte. Die Definition von #woid – ein genutzter Hashtag, der eben auf geistiges und menschliches Niederland und Anwesenheit von Waldmenschen hinweist. Fichtenkartell schrieb sogar ein Lied darüber:

Auch hier wird alles gesagt.

Für die Filmpool Film- und Fernsehproduktion war das hingegen genau das, was man suchte. Unberührtes, fremdes Land, bereit für die Knechtschaft. Einen Straßenköter auf der Landkarte, der sich die Hand nicht mehr aussuchen kann, die ihn füttert. Also schlechtes Leben, schlechtes Bier, schlechte Menschen? Nicht ganz. Denn:

Nicht alles ist schlecht, aber echt

»In den Menschen steckt ja das ganze, einzige Potenzial«, sagt Valente, der die Menschen hier in Niederbayern als bodenständiges Volk beschreibt, das seine Liebe für Schweiners und Bier kundtut, indem es das schon zum Frühstück einverleibt. Und davon reichlich. Man vergöttert die Völlerei sogar. Und um das Bildnis des nur auf Saufen und Fressen getrimmten Niederbayernneanderthalers auch endgültig zu manifestieren, gibt es seit 2013 sogar ein Weißwurst-Äquator-Denkmal.

»Und genau das wussten wir uns zu nutzen“, erläutert Valente. „Köln, Leipzig und Berlin sind schöne Städte. Freilich mit vielen dunklen Flecken, aber die Schönheit obsiegt. Zwiesel hingegen ist ein einziger dunkler Fleck. Kaputt, und dermaßen von fertigen Leuten gepflastert, dass wir mit der Kamera im Grunde nur noch draufhalten müssten. Gagen für Laiendarsteller sind verhältnismäßig hoch. Langjährige Hauptdarsteller bekommen für einen Monat in Köln 50667 oder Berlin Tag & Nacht mittlere bis hohe vierstellige Monatsgagen. Das sind aber die Ausnahmen, während wir den Rest ausnehmen. Bereits unter Vertrag genommene Laiendarsteller arbeiten in diesen breiten Graden dank eines Kasten Biers bereitwillig, da breit und willig – aber dafür sind sie im Fernsehen!«

Und mehr scheint man auch nicht wissen zu müssen. Von keiner Seite.

Alles säuft, alles läuft

»Grundthemen werden, wie bei allen Seifenopern dieser Art, alltägliche Probleme und die Konflikte zwischen den Handelnden sein. Und da man sich im niedersten Niederbayern befindet, spielt Alkohol eine tragende Rolle. Im Zentrum steht zu Beginn der Brauereibesitzer Schwemmgruber Georg. Seine Kinder Anton (Dane), Franziska (Fannal) und Kreszenz (Zenz) kämpfen gegen die eigene Leberzirrhose und ums väterliche Erbe. Erschwert wird das alles durch Onkel Nullmeier Norbert, der die Brauerei haben will, den undurchsichtigen Unternehmer Baumhackler Alois und den Bürgermeister Krampfhuber Kurt und dessen Berater Haslbauer Matthias. Weiter ringen sie alle mit dem eigenen Stolz, dem eigenen Gleichgewicht nach dem Frühschoppen und dem Einfluss ihrer Freunde – und ebenso Feinde.«

Wie seine Vorbilder auch, soll Zwiesel 94227 den gewohnten Reportagestil seiner älteren Geschwister erben und mit Handkameraführung und Voiceover-Kommentaren aufwarten. Zwischen den Szenen landen Aufnahmen von Zwiesel, seinem verödeten Stadtplatz, maroden Straßen, seit Jahrzehnten geschlossenen Geschäften, verfallenden Häusern und blühenden Misthaufen. Alles unterlegt mit typisch bayerischer Festmusik.

Ebenso will man die kurzen Interviews beibehalten, bei denen die Figuren ihre Gefühlslage kommentieren. In Zwiesel 94427 kann man dauerhaft eingeblendete Untertitel erwarten, da in diesen niederen Landen niemand der deutschen Sprache mächtig ist und Hochdeutsch seltener beherrscht wird als die Schrift. Das erschwert es dem zivilisierten, aufrecht gehenden Rest von Deutschland, da bairisch immer auch betrunken bedeutet.

Summa summarum bekommt der man das, was RTL-Zuschauer erwartet. Niveau, das seinesgleichen sucht und fiktives Leben für die, die selbst keines haben.

Die Vorproduktion läuft bereits und man sucht weiterhin ortsansässige oder -liegende Darsteller. Von deren Wille, mitzuwirken, war man schon von Anfang an in höchstem Maße positiv überrascht, verrät die Produktionsfirma. Alles läuft – allem voran das Bier, wie es nicht anders zu erwarten war und das Mana dieser Region zu sein scheint. Wohl ist hier das höchste Maß die Mass Bier selbst.

Um die Darsteller aber nicht schon vorher gänzlich zu vergraulen, verzichtet man tunlichst auf das in der Region ansässige Bier und vertraut auf Augustinerbier. Augustiner-Bräu ist bekannt für besten Gerstensaft und offene Kooperationen, wie man es bei einem letztlich eröffneten Fitnessstudio von Markus Rühl sehen konnte.

Anfang 2023 sollen die richtigen Dreharbeiten beginnen; die Filmpool Film- und Fernsehproduktion hat bereits das finanzielle OK für die ersten einhundert Folgen abgesegnet. Die Sendezeit wird im zeitlich besten Hartz-IV-Sektor angesiedelt. Also nach Mittag, wenn die Zuschauer ihren Rausch ausgeschlafen haben und die Augen von Schank-und-Schiel- auf temporären Schaubetrieb umgestellt haben. Aber noch vor den 20-Uhr-Nachrichten, bevor der vorabendliche erste Rausch sie zu sehr umnachtet.

Ob es auch eine App gibt, wie es bei Berlin Tag & Nacht der Fall ist, richtet sich nach den Einschaltquoten. Ebenso sollen kleinere Ableger im Landkreis Regen (zu dem Zwiesel gehört) starten, etwa Klautzenbach Abends & Nacht oder Oberauerkiel (im Dialekt Oba-aua-kay ausgesprochen). Vorerst aber konzentriert man sich auf die ersten einhundert Folgen.

Die erste Folge soll übrigens Ende Juli 2023, passend zum Auftakt des Grenzlandfestes ausgestrahlt werden.

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