Im Grunde dürften ich und zahlreiche andere schon gar nicht mehr leben.
Aus Sagen und Legenden wird berichtet, dass diejenigen, die vor 1990 geboren wurden, die letzte Ära der Unzerstörbaren darstellen. Gründe mag dies viele haben, doch sticht einer ganz besonders und offensichtlich heraus: Die damalige Generation war nicht so komplett dämlich und geistiges Untergrundfliegertum wie der Gro der Neuzeit. Was unter anderem daran liegt, dass wir damals mit der besten Musik überhaupt aufwuchsen, die größten Klassiker im Kino sehen durften, das Wort Internet noch im Fremdwörterlexikon existierte, es ergo solchen Scheiß wie Facebook, Twitter und den ganzen (a)sozialen Rest noch nicht gab und wir noch Werte wie Anstand, Respekt und Achtung vermittelt bekommen haben – und ebenso gelebt haben, wie wir es immer noch tun.
Doch zurück zum Anfang, womit ich einen weiteren Grund anführen will, warum wir unzerstörbar waren: wir waren es einfach! 😀 Warum genau, nun, da kann ich nur mit den Schultern zucken. Aber jeder, der auch das Glück und den Segen hatte, in oder vor diesem Zeitrahmen geboren worden zu sein, wird mir zu ungefähr vierhundert Prozent zustimmen.
Ich mein, so oft, wie es mich beim Fahrradfahren mit der Fresse voran im Winkel von 45° in den Teer aufgestellt hat, da würde wahrlich kein Schreibblock der Welt für diese Strichliste reichen. Und was ist geschehen? Nichts. Erstens war ich es schon damals gewöhnt, mich dumm anzustellen, zweitens waren wir damals keine sagrotanverwöhnten, extraweichgekochten Heulsusen und zur Mama laufende Jammerlappen wie die Neugeneration.
Und wenn’s Dich unterwegs der längst nach in den Baum lassen hat, mei, dann war das einfach so.
Man verließ frisch gewaschen und samt intakter Kleidung das Haus. Als man spät abends nach Hause kam, waren von den Kleidern oft nur zerlumpte, aufgerissene Fetzen übrig geblieben. Der Rest des Kindes war dafür so verdreckt und von Schrammen und Kratzern gezeichnet, dass man neben einer Wurzelbürste auch noch das Sandstrahlgebläse auspacken wollte.
Und? Was ist passiert? Nichts. Es wurden keine Fragen gestellt. Das Kind kam nach Hause, und das zählt.
Um beispielsweise 20 Uhr musste man zuhause sein. Und wenn der Sohn erst um 20:30 nach Hause kam, mei, dann hat’s den Deppen halt wieder Mal mit dem Rad zerlegt. Oder er hat sich einen Platten gefahren und sich danach bergab ungünstig im Fahrradrahmen verkeilt. Was auch immer. Smartphones gab es damals nicht. Wir waren selber smart und mussten nicht die Technik für uns die Denkarbeit erledigen lassen oder ein Gerät für sechshundert Euro besitzen, nur, damit wir uns beschissene Katzenvideos ansehen und den anderen Vollidioten unser scheiß Mittagessen als Bild schicken können. Und die Eltern riefen auch nicht gleich Polizei, Feuerwehr, Staatsanwalt, Großmetzgerei und den Rettungsdienst an, weil der Sohn seit einer Minute überfällig ist.
Ein Sohn kommt niemals zu spät.
Ebensowenig zu früh.
Er trifft genau dann ein, wenn er es für richtig hält.
Ansonsten liegt er halt noch im Graben und sucht das Fahrrad.
Erst, wenn man mehrere Liter Blut verloren hatte oder der Kopf nicht mehr auffindbar war, sagte man seinen Eltern, dass etwas weh tut. Nicht früher. Meistens aber später oder gar nicht. Solange etwas blutet und weh tut, lebt man. Was muss man schon mehr wissen?
Aus diesen Erzählungen kann man natürlich folgern, dass wir bei schönem (und erst recht bei miesem) Wetter den meisten Tag draußen verbracht haben.
Auf diese Weise kann man sich zwar zwar nicht zu einem elitären Level 85 Hexenmeister entwickeln, dafür ist man aber immer an der frischen Luft und hat etwas vom Leben! Ja, Leben! Das ist das, was man macht, wenn man nicht 24/7 online ist und im Minutentakt den Newsfeed aktualisiert oder schaut, ob jemand das filterverseuchte Selfie mit einem Kommentar oder Like versehen hat.
Die neue (De)Generation
Nun denn! Primär waren meine beiden Brüder und ich, wie die meisten Kinder der Nachbarschaft, am örtlichen Bolzplatz anzutreffen. Dort befand sich ein Sandbolzplatz mit zwei Toren. Der Sandplatz wurde später durch einen Basketballplatz erweitert. Beflankt wurden die Anlagen durch einen Verkehrsgarten (nein, da wachsen keine Verkehrsschilder, da lernen Kinder das Fahrradfahren) und einen normalen Spielplatz mit Rutsche, Kletterburg, Schaukeln. Alles Relikte, die heutige Kinder nicht mehr bedienen können, weil sie ihre dämlichen Kackbratzen ja nicht von ihrem verschissenen Dreckshandy lösen können und ihre Muskulatur ohnehin schon so degradiert ist, dass der Gang zum Klo schon einem Marathon gleicht.
Ohnehin wären sie zu fett dafür – gar würden sie die hilflose Burg beim Erklimmen ein Stockwerk tiefersetzen. Weil wer jeden Tag zwei Liter eines Energydrinks zu sich nimmt (und somit minimum 220 Gramm Zucker und ganz ganz natürliche, wertvolle Vitamine), sich im Gegenzug nur mit seiner Spielkonsole beschäftigt und die einzige Anstrengung darin besteht, im Teamchat klarstellen zu müssen, wer die Mütter anderer Leute letzte Nacht mehrbefruchtet hat, der ist freilich nicht nur geistig am Degenerieren.
Wie dem auch sei, man war gar täglich an besagtem Spielplatz anzutreffen – und weil jeder Besucher von Brummbrummquietsch einzig hier ist, um sich an meinem Leid und Erlebtem zu laben, gibt es ein paar Schwänke aus meiner Jugend! 😉
Und der Knappe kriegt die Kappe
Was mir als Erstes einfällt ist die Szene, die ich nach wie vor im Gedächtnis habe, als wäre es erst gestern geschehen: die Reduzierung der Anzahl meiner Geschwister um Eins. Oder, mit mehr Details gespickt: die Tötung meines jüngeren Bruders durch meinen älteren Bruder. Oder Fasttötung. Dem Vorab geht das Faktum, dass jenes besagte ältere Geschwisterteil ein Schuhtod war und kein Paar recht lange gehalten hat. Aus diesem Grund wurde eben von höherer Macht entschieden, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt an Sicherheitsschuhe mit Stahlkappen zum Fußballspielen tragen solle.
Doch anstatt etwas Sänfte zu beweisen, ging er durch wie ein tollwütiger Minotaurus. Ball, Schienbein, Freund, Feund. Es schien alles irrelevant zu werden.
Ich mein, er sieht haargenau, dass sein eigener kleiner Bruder hier einen sauberen Kopfball landen will und schon wie Raiden aus MORTAL KOMBAT sich lang macht und raketenmäßig durchstarten will. Aber nein. Kein Auge und erst recht kein Ball dem Feind. Somit holt er voll aus und knallt dem kleinen Brüderchen mit einer sichelähnlichen Bewegung die Stahlkappe voll. Ins. Genick.
Ich mein, er hätte abbremsen können, die Wucht des Drehmoments etwas drosseln.
Oder ihn warnen können.
Gnade vor Recht walten lassen können.
Aber nein.
Nichts.
Eher noch alles Momentum komprimiert und erst recht komplett durchgezündet.
Selbstverständlich ging klein Brüderchen wie ein Brett zu Boden und war für einen Moment platt wie eine Flunder. Regelrecht hingebrettert wäre wohl der richtige Fachausdruck hierfür.
Ich stand daneben und dachte mir: Mei, das war’s jetzt wohl. Der ist hin und steht nicht wieder auf. Und ich habe nur noch einen Bruder. Stinksauer, aber keinesfalls verletzt, stand der jüngere Bruder jedoch wieder auf und das Spiel ging weiter. Damals wurde eben noch richtiger Fußball gespielt – nicht dieser verweichlichte Profi(t)sport, der neuerdings allgegenwärtig ist und in der Regel einzig aus zweiundzwanzig, überbezahlten, orkgesichtigen Oberdorfdeppen besteht, die sinnlos und ohne jeglichen Elan oder Engagement auf eine aufgeblasene Lederkugel ollern und dafür hinten und vorne jeden erdenkbaren Luxus oder auch nur ein paar Milliönchen bis zum Anschlag reingeschoben bekommen.
Ein Spieler wird schief angesehen, fällt um und krümmt sich vor Schmerzen. Was ich für so einen dämlichen Kackbrazen übrig hätte? Eine Kohlenschaufel. Definitiv eine Kohlenschaufel. Und viel Schwung. Sowie eine dreifache Zugabe.
Der Bolzplatz beim Spielplatz war ohnehin mehr als Schlachtfeld und anarchistisches Kriegsgebiet zu bezeichnen. Mit Spielen im ursprünglichen Sinne hatte es also nicht mehr all zu viel gemein. Ich denke da nur daran, dass hier rein medizinisch und vom gesunden Menschenverstand her generell nicht viele überlebt haben dürften, es aber dennoch taten. War das vielleicht eine Zone, wo selbst der Tod nur belustigt zusah und beim Tod eines Menschen abwinkte, weil es einfach zu lustig war, um es nicht noch einmal sehen zu wollen?
Definitiv.
Doch die Stahlkappe im Genick war nur eines von vielen Erlebnissen.
Denn je kleiner, desto feiner (und gemeiner) oder: bitte nur noch auf die Kleinen, weil die ja so schön weinen
Hierzu muss ich an den damals kleinen Knirps (als wären wir selbst recht viel größer gewesen) denken, der vielleicht fünf Jahre jünger war als wir und draußen neben dem Tor stand. „Geh, spiel halt mit!“, riefen wir ihm aufmunternd entgegen. „Nein“, entgegnete er uns, „ihr haut ja immer so unglaublich fest [auf den Ball, Anm. d. Red.] drauf, da passiert nur noch was!“
Dennoch ließen wir nicht locker, da wir der Auffassung waren, dass ein ehrenwerter Tod auf dem Spielfeld immer lustig ist und niemand draußen spaßlos den anderen beim Spielen zusehen sollte.
Um es gleich auf den Punkt und ins Gesicht zu bringen: Ungelogen: keinen Schritt. Keinen einzigen. Vielleicht, ja aber nur vielleicht war es ein halber. Aber kein Zentimeter mehr. Denn nach kombinierter gemeinschaftlicher Überzeugungskraft hatte er schließlich nachgegeben und mit seinem ersten Schritt noch nicht einmal ganz den Sand berührt. Keinen Sekundenbruchteil vorher hatte irgendein Spieler hinter uns eine perfekte Auflage bekommen, konnte nicht widerstehen und nahm den Ball zu einhundert Prozent volley. Auf das Tor hatte er gezielt, freilich, was denkst du denn. Aber natürlich hatte er stattdessen dem Kleinen einen solchen Gesichtsschuss verpasst, dass dieser in hohem Bogen wieder ins Gras zurückgezimmert wurde.
Wo er auch liegengeblieben ist.
Ein wunderschönes Knall-auf-Fall-Erlebnis. Ich muss nicht erwähnen, dass wir keine weiteren Überredungversuche mehr unternahmen, ihn zum Mitspielen zu bewegen. Was war geschehen? Wieder nichts. Kein Kopf, der meterweit flog. Kein Blutschwall von fünfzehn Meter und auch keine bösen Worte. So stand auch er nur (wenn auch kurz schluchzend) auf, schimpfte etwas und war verschwunden.
Unvergessen für die Ewigkeit.
Wäre er nicht in dem Zeitraum der Achtziger- und Neunzigerjahre geboren worden, nun, dann hätte es ihm sein Nasenbein wohl quer durch den Hypotalamus gepulvert.
Er saß nicht lange auf dem Tor, da ihn bald die Flugbahn auserkor
Sehr unterhaltsam war natürlich auch der andere Zuschauer, welcher der Meinung war, auf der Latte des Tores einen recht guten Aussichtspunkt ergattert zu haben. Das fand der Ball auch, als er sich entschied, sich mit voller Wucht in sein Gesicht zu graben und ihn mit mehrfachen Überschlag wieder auf das Gras hinter dem Sandplatz zu befördern.
Vielleicht war er auch ein kleiner Rebell und wollte es einfach nur herausfinden.
Das änderte halt nichts daran, dass er durch diesen einmaligen Gesichtstreffer auf Dauer und für sein Leben lang vom Gegenteil seiner Entscheidung überzeugt wurde. Und man darf sich sicher sein: wenn der Ball einen auserkoren hat, gibt es nur zwei Treffer, die einen von Schmerz gepeinigt in die Knie sinken lassen werden. Entweder der elitäre Gesichtsschuss aus einen Meter Entfernung oder der sagenumwobene Klötenterminator, welcher sich hier und da gerne auch mal als Flanke oder langer Pass tarnt und dann mittels Volleyschuß des neben dir stehenden direkt in deine Kronjuwelen verewigt.
Merke! Es ist ungeschriebenes Gesetz, dass der Ball immer jene beiden Ziele mit höchster Priorität auserwählen und auch treffen wird.
Der Zaun hielt nicht in Zaum
Natürlich passierte auch mir selbst die eine oder andere Unannehmlichkeit. Des Öfteren wurde beispielsweise meine Brille durch massive, lederne Gewalteinwirkung ergonomisch exakt an mein Gesicht angepasst. Oder in anderen Worten: ich bekam des Öfteren den Ball voll in die Fresse. Meist aus nächster Nähe. Oder halt. Eigentlich immer. Ja. Immer aus nächster Nähe. Was auch einiges erklären sollte, wenn man diesen Blog hier liest.
Wohin denn auch sonst als in die Visage, eh?
Auch an diesem einen Tag war es eine dieser Vorlagen wo du denkst: dies wird DER Schuß. Die Vorlage meines Lebens. Und bereits beim voll Durchziehen und dem Auftreffen und Spüren des Leders auf deinem Span weißt du: dieser Schuss besitzt die Signatur des Todes. Dies wird das runde Leder der Vernichtung. Wo der aufschlägt, wird das Leben weichen. Weder das Eisen des Tores noch die Atmosphäre kann diesen Ball stoppen. Er bringt Tod und Verderben und egal, wer sich in den Weg stellt und egal, was geschehen mag, alles sich in der Flubahn befindliche Leben wird ausgelöscht.
Nun, Tod und Verderben brachte der Schuss nicht, war aber schon ganz nahe dran.
Ich stehe in der Mitte des Platzes, als die Vorlage eintrudelt und der Tod sich ankündigt. Flugs angenommen und gleichzeitig das Tor visiert, passiert das Ungeheuerliche: Aus unerklärlichen Gründen macht der Ball (oder der Fuß, die Legende spricht sich darüber nicht so wirklich aus) plötzlich eine 90-Grad-Drehung nach links. Anstatt den Ball in das Tor zu zimmern und die Eisenstäbe dessen zum Glühen zu bringen, vollzieht die Flugbahn eine Wendung. Gut, denke ich im gleichen Gedanken, der hüfthohe Jägerzaun zwischen Bolzplatz und Verkehrsgarten ist ja eh nicht umsonst dort.
Oder?
Freilich.
Denn Pustekuchen.
Freilich war er umsonst dort.
Denn schlecht, denke ich, nehme das Geschehnis plötzlich wie in verlangsamter Zeit wahr und sehe den Ball zart an Flughöhe gewinnen. Gut, denke ich, ist ja nur der Verkehrsgarten, da ist gerade keiner. Etwas schlechter, fluche ich in mich hinein, denn flugs kommt von links doch glatt ein kleines Kind auf dem Rad angefahren. Gut, denke ich, so viel Pech werde ich nun dennoch nicht haben, dass ich das Kind vom Fahrrad hole, oder?
Mei, damals wusste ich natürlich noch nicht um mein Talent für solche Dinge.
Was soll ich sagen?
Kein Streifschuss. Nein.
Ein glatter Volltreffer, und zwar Howitzerstyle.
Der Ball wurde von mir im nanosekundengenau richtigen Augenblick volley genommen, vollführte dann erwähnte, schicksalsschwangere 90-Grad-Drehung und schlug dann dumpf in das Gesicht des mit gut zehn Stundenkilometer schnellen Kindes ein, welches durch die Wucht komplett vom Rad geholt wurde, als hätte man mit der Feldhaubitze Präzisionsübungen vollzogen. Könnt Ihr Euch vorstellen wie die Scharfschützen-Szenen aus RAMBO 4. Das lustige i-Tüpfelchen daran war, dass der Ball kurz vor Aufschlag eine kleine Spitze einer Jägerzaun-Latte gestriffen hatte, die dadurch umgeknickt wurde.
Und das alles innerhalb einer Sekunde. Die Geräuschkulisse in der Bolz-Knacks-Wumms-Chronologie war einfach unübertrefflich.
Das Streben nach Überleben
Sonderbarer- und abschließenderweise muss ich sagen: es hat jeder überlebt. Mein jüngerer Bruder. Der Junge mit dem Gesichtsschuss. Der kleine Bub, der mittels Langstreckenraketenschuss vom Rad geholt wurde. Ich selbst. Wir alle haben es überlebt. Es gab weder ein großes Chaos, noch Verletzungen, noch Ärger jedweder Art.
Solche Ereignisse stelle man sich nur mal in der heutigen Zeit vor. Die Mutter des Fahrradkindes hätte zuerst uns alle mit Pfefferspray erblinden lassen und dann erschlagen, dann Anzeige erstellt, einen Tag später wäre das Sozialgericht bei meinen Eltern aufgetaucht und wir hätten dem Kind wegen den eineinhalb Kratzern im Rahmen ein neues Fahrrad kaufen und ungefähr acht Millionen Euro monatliches Schmerzensgeld zahlen müssen. Bei dem Kind selbst wäre eine massive zerebrale Störung festgestellt worden und selbst meine Urenkel dürften noch für diese Familie bezahlen. Nicht zu vergessen vierzehn Zeitungsartikel über die heutige Rowdy-Jugend. Und Killerspiele. Diese bösen Killerspiele sind doch ohnehin an allem Schuld!
Kurzum: Wir waren damals keine weinerlichen Mumus und früher war Alles besser.
Alles, verdammt noch mal.
Denn alles, was scheppert, sich punktemäßig läppert
Da wir im Grunde alles außer das Tor trafen, kamen wir irgendwann auf die Idee, ein Punktesystem einzuführen. Den Pfosten zu treffen gab einen Punkt, die Latte drei Punkte. Laternenpfahl fünf Punkte, abgebrochene Zaunlatte fünfzehn Punkte. Selbstverständlich war das System nie komplett und auch nie ausgereift, weil wir stets etwas anderes an-, um- und weggeschossen hatten. Es war also ein variables Punktesystem, wenn man so wollte.
Zählt eine durchgeschossene Zaunlatte mehr als eine, die nur zart, aber kunstvoll umgeknickt wurde? Zählt ein vom Baum abgeschossener Ast mehr als ein Apfel, der dadurch ebenso herunterfällt? Wie viel punktet ein getroffenes Geländer? Zehn Meter weg? Fünfzehn Meter weg?
Dennoch oder gerade deswegen war es stets sehr amüsant. Ich brach den Highscore mit einem ganz besonderen Treffer. Wobei hier der Fußball an sich nur zweitrangig war.
Im Verkehrsgarten gab es einen gut vier Meter hohen Masten, auf welchem eine massive Klingel oder glockenähnliches Ding angebracht war. Diese fungierte wohl für die Fahrlehrer der Kinder und die Glocke schrillte laut, damit jeder wusste, dass er zum Verkehrshäuschen zurückzukehren hatte. Zumindest hat mich diese Glocke schon immer gereizt, ja gar wie ein magischer Quest angezogen.
Den Masten selbst traf jeder und man punktete auch gut damit. Eines Tages kam dann dieser eine Tag, an welchem ich volle Lotte die obere Apparatur mit einem satten Volltreffer konfrontierte. Ergebnis? Leider nichts, wobei ich natürlich fest damit gerechnet hatte, dass irgendetwas gleich explodieren und uns komplett um die Ohren fliegen würde.
Also kletterte ich über den Jägerzaun und pirschte mich an den bereits angeschossenen Feind heran. Verdutzt blickte ich nach oben und war mir sicher, dass die Glocke doch hätte zerspringen müssen. Ich mein, der Schuss wäre sonst ohnehin in die Umlaufbahn der Erde eingetreten, wie kann die Glocke noch ansatzweise festsitzen?
Ein Ding der Unmöglichkeit, welches klein Alexander keine Ruhe ließ, womit er also zur Tat schritt. Kraftvoll rüttelte ich also an dem Masten – und ehe ich mich versah, fiel ein Teil der Vorrichtung die vier Meter nach unten und *kloink*, mir voll auf den Wirsing. Dennoch musste ich lachen, da genau meine Rübe jetzt die Glocke zerspringen ließ. Jeden anderen, nach 1990 geborenen Menschen hätte dieser Klunker wahrlich den Kolben gespalten, bei mir war es aber anders rum. Wir brechen nicht, wir brechen!
Der heruntergefallene Teil der Glocke war aus runder, gut drei Zentimeter dicker, gehärteter Keramik. Man konnte es sich wie ein Teil dieser klassischen, mechanischen Wecker vorstellen, die dich mit ihrem unglaublich penetranten Geschrille kinnhakengleich aus dem Schlaf befördern. Leider habe ich aber dieses fragmentierte Relikt und Beweisstück nicht aufgehoben. Dennoch steht es nach wie vor als Inbegriff der Unzerstörbarkeit einer ganzen Generation.
Und so, wie diese Glocke einen Knacks abbekam ist wohl die Tatsache unumstritten, dass ich seit damals, trotz aller Unverwüstlichkeit, auch einen Sprung in der Schüssel habe. Dieser Blog ist schließlich bestes Beispiel dafür.
Bildquellen:
Die hübschen Frauen auf dem Fahrrad:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/96/A_wheel_within_a_wheel_page_56.jpg, By Frances E. Willard [Public domain], via Wikimedia Commons
Das Bild mit den getragenen Sicherheitsschuhen:
https://en.wikipedia.org/wiki/File:Steel-toe_boots.jpg, By Liftarn (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC BY-SA 2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5-2.0-1.0)%5D, via Wikimedia Commons
Der Fußball:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fussball.jpg, Urheber: Anton (rp) Winter 2004 Nutzungsrechte freigegeben: GNU GNU Free Documentation License.
Der Mörser:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dd/HGM_M%C3%B6rser_von_Belgrad.jpg, von Pappenheim [Copyrighted free use], via Wikimedia Commons
Der Jägerzaun:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/83/J%C3%A4gerzaun.jpg, By User:MarkusHagenlocher (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)%5D, via Wikimedia Commons