Er merkte noch, dass es ihn bläht, doch dann kam der Wind und es war zu spät

Man kann schon etwas ins Grübeln und Notfallpläneschmieden kommen, wenn der Mitfahrer sich den Bauch hält und meint, dass er eine nicht ganz so kompatible Mischung an gärungsfähigem Material zu sich genommen hätte und jenes nun wieder raus möchte. Oder anders formuliert: Er das Gefühl hat, dass‘ ihn gleich zerwirft wie einen Ochsenfrosch und wir mit ihm alle qualvoll sterben müssen.

Mei, wen wundert es. Ja, wen wundert es denn da noch. Bei der Orgie, die er seinem Magen da gegönnt hat, war’s ja eher noch ein Wunder, dass er nicht innerlich wie äußerlich komplett kollabiert ist. Einen Viertel Liter Schokomilch und weißen Pressack plus zwei Semmeln zur ersten Brotzeit, einen Liter Multivitaminsaft bis zum Mittagessen. Dann: Schweiners mit viel Kraut sowie ein Stück Sahnetorte als Nachspeise zum Mittagessen. In dieser Komposition ist das nicht mehr als Nahrung, sondern als Treibladung der Güteklasse 4 anzusehen. Generell hatte er ja nebenbei noch erwähnt, die Krautlasagne des gestrigen Tages noch heute morgen zum Frühstück verspeist zu haben. Ja. Zum Glück hat er das.

Ich als stummer Zeuge war ich schon am Überlegen, wie ich an die Telefonnummer des Kampfmittelräumdienstes komme.

Denn dieser Mann ist eine Waffe.

Eine Bombe, die gleich hochgeht.

Er weiß es nur noch nicht.

Ich bis dato auch noch nicht, weil wir nach dem Mittagessen samt Nachspeise eilig wieder weiterfuhren, da noch ein paar Erledigungen für den herrschenden Umzug auf uns warteten. Dann folgte dieser verhängnisvolle Moment, wo er oben erwähntes Statement von sich gab und sich den Bauch zu halten begann.

Soweit noch alles gut und schön. Fortuna hatte damals ihren chilligen Tag und war mir mal ausnahmsweise hold, denn der nächste Halt war schon in Sicht. Ohnehin will ich mir noch etwas zum Trinken holen. Mein Mittagessen, bestehend aus einem Schnitzel, dessen Würzung sich an einem Salzleckstein zu orientieren schien, forderte seinen Tribut. Wieder eingestiegen, will ich bereits wieder losfahren, ehe ich mir denke, noch einmal einen Kontrollblick auf meinen Beifahrer zu werden. Ob er noch lebt und so.

Sauerkraut, Sauerkraut, das wirklich kräftig einehaut. Bis dass der Flatus kräftig zimmert und jeder im Umkreis nur noch wimmert.

Joah, da scheint mittlerweile wirklich etwas Größeres im Gange zu sein. Eine Geburt steht an! Schließlich hält er sich seinen Bauch, streichelt ihn gar zärtlich. Versucht, ihn zu besänftigen. Für einen Moment schien dies sogar Wirkung anzutragen, da sich der Flatus Infernalis Daemonicus wieder zu beruhigen schien, was sich auch in einem genügsamen Gesichtsausdruck auf meinem Beifahrer widerspiegelte. Gut, denke ich, ich darf noch einen weiteren Tag auf dieser schnöden Welt verbringen. Ich lasse den Zündschlüssel um, will losfahren, doch: „Oh, der muss jetzt aber noch raus“.

Schockstarre.

Innerlich wie äußerlich. Meine Augen werden groß, der Angstschweiß sitzt bereits auf der Stirn und ein eisiger Schauer zieht mir so weit den Rücken runter, dass meine Arschgrunse Frost ansetzt. Mein Ende. Es ist gekommen. Unser aller Ende!

Doch: Entwarnung.

Löblicherweise öffnet er die Autotüre, steigt hinaus und löst sich von allem leichten und doch so schweren Ballast, der in ihm wütet. Ja. Ich sehe es an seinem Gesicht, dass ihm eine gewaltige Bürde abgenommen wird, während sie sich auf Windes Händen auf den Weg macht, nie wieder gerochen zu werden. Das war doch mal ein sehr löbliches Manöver, seine mit Tod angereicherte Luft nicht im Auto zu lassen. Zufriedenheit kehrt ein, Ruhe legt sich bedächtig auf meine Sinne. Meine innerliche Anspannung löst sich. So wie auch seine äußerliche. Alles scheint ein gutes Ende zu nehmen. Überleben, Familie gründen, einen Baum pflanzen, Opa werden, mit neunzig noch einmal richtig kräftig in die Windel einscheißen und so weiter. Das Leben zieht nicht vor meinem geistigen Auge vorbei, nein, es lässt mich weit blicken. Auf ein facettenreiches Leben und erfülltes Dasein, welches mir doch noch gewährt und nicht zerstört wurde.

In diesem Fall wäre auch alles kein Problem gewesen. Nein. Überhaupt nicht. Es hätte gut ausgehen können, wir hätten alle überleben können.

Hätte. Aber nur hätte.

Hätte nicht genau in diesem verdammten Augenblick der Wind gedreht. Was soll ich sagen? Geleck. JALECK. Ich dachte ja schon, einiges gewöhnt zu sein. Und wie jeder von Euch weiß, wird es nur dann gach, wenn einem die Eigenen schon die Nasenhaare versengen und es selbst einem zu viel wird. Braucht sich jetzt keiner rauszureden, denn Schweine und Sauen sind wir alle. Auch du. Erst recht du, der es verneint.

Aber das hier, meine werten Freunde, das war etwas anderes. Ganz etwas anderes. Der hatte mit seiner Fresserei so schnell hochgelevelt, dass keine Rettung mehr in Sicht war. Mit einer normalen Skala war das nicht mehr bewertbar, aber wenn man ihn als räudige Drecksau beschrieben hätte, es wäre schon passend gewesen. Vorausgesetzt, man hätte noch Luft zum Atmen und Sprechen gehabt. Es war nicht mehr als humanoides Abgas zu bezeichnen, das war schon ein Bollwerk der oberstufigen Zerstörerklasse. Der Mephisto der Darmwindungen, der Beelzebub der Gärungsgase und der Endherrscher aller Geruchsempfindung. Kein Hauch des Todes, sondern dessen Kinnhaken und olfaktorischer, unblockbarer Roundhousekick. Das war schon nicht mehr Blähungen haben, das war schon mit Scheiße nach Leuten werfen.

Die Scheiben sind zwar nicht angelaufen, dafür meine Augen. Von innen. Alles brennt, alles juckt, alles will einfach nur noch sterben. Hölle. Es war die blanke Hölle und ich war aus Angst so gelähmt, dass ich mich noch nicht einmal abschnallen und das Auto verlassen könnte. Das kann man sich ungefähr vorstellen wie in Indiana Jones, als die Arche geöffnet wird und den Anwesenden einfach mal das Gesicht von den Knochen schmilzt. Vielleicht war in meinem Fall die Musikuntermalung nicht so dramatisch, dafür war das Erlebte an sich weitaus schlimmer. Vor allem keine Fiktion, sondern blanker, realer Terror.

Wie einst schon Johann Wolfgang von Goethe in seinem Fauststoff geschrieben hatte:

„Es war ein Schlag, der ging durch alle Glieder! Schafft einen Stuhl, ich sinke nieder!“

Denkt Ihr, der wurde nicht von so etwas inspiriert? Dann seid Ihr auf dem Holzweg. Ihm wird es ähnlich ergangen sein, als ein Bote ihm neben einem Brief auch ein ganz anderes Paket in der Schreibstube dagelassen hat. Wohl einen Koffer, der in das Zimmer passte, auf der anderen Seite aber so groß war, dass er mehr als raumfüllend war und selbst aufgerissene Fenster nicht genug Platz schaffen konnten. Ein Produkt von erstklassiger Qualität, unbeschreiblicher Quantität und grausamer Vehemenz, die unter die Haut geht und sich in den Knochen festsitzt und einen einfach nur noch hilferufend japsend lässt. Luft. Luft! Ja. Ein Element, so nah und doch so fern, so rettend und doch vernichtend zugleich. Atme, um zu leben, atme ebenso, um zugrunde zu gehen.

Und nachdem er sich von seiner Ohnmacht wohl erholt hatte und sich langsam wieder am Tisch hochzog, konnte auch er sagen: Jaleck. JALECK.

Nun, zusammenfassend kann man sagen: Es gibt Tage, da überlebt man und es gibt Tage, da möchte man einfach nur noch sterben. Und dieser Tag war defintiv kein lebenswerter Tag.

Bildquelle:
Der Teller mit Kassler und Kraut:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AKasseler_und_Sauerkraut_01.jpg,
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